Sechste Sinfonie c-Moll

Diese Sinfonie ist neben der Sinfonie Nummer 13 die wohl Berührenste von Du Wei. Sie hat das Werk in einer tiefen depressiven Phase geschrieben. Damit befand sie sich in guter Gesellschaft, denn viele Komponisten haben gerade in depressiver Gemütslage besonders ergreifende Werke geschrieben. Zum Beispiel hat Ludwig van Beethoven, verzweifelt über seinen drohenden Hörverlust, seine berühmte Fünfte Sinfonie in c-Moll geschrieben. Ein anderes Beispiel ist W. A. Mozart, der seine g-Moll-Symphonie 1788 als bereits schwer kranker Mann, der unter Existenzängsten und Verfolgungswahn litt, fertig gestellt. Oder Johannes Brahms, der sein berühmt gewordenes Klavierquintett in c-Moll, Opus 60 schrieb, währenddessen er unter Zerrissenheit wegen der unerfüllten Liebe zu der Frau seines Freundes, Clara Schumann, litt. Auch Dmitri Schostakovitsch litt fast sein ganzes Leben lang unter Todesängsten vor einem Exekutivkommando des sowjetischen Geheimdienstes, weil er in seinen Auftragsarbeiten für die kommunistischen Machthaber immer wieder aus Abscheu seinen Hohn und Spott über das Zwangsregime aus seinen Werken unterschwellig herausklingen ließ. Als letztes Beispiel sei hier Rachmaninov genannt, der nach einer Schaffenskrise sein berührendes Klavierkonzert No. 2 schrieb.

Du Wei hat die Symphonie Nummer sechs in c-Moll im Spätherbst 2009 begonnen. Zum Initialmoment für dieses Werk hat sie später erzählt: „Eines Morgens, Anfang September 2009, bin ich sehr glücklich aufgewacht. Ich war im Traum mit meinen Eltern und mit der jali hauquin[1] unterwegs in der Huton[2], die zu der Siheyuan[3] meiner Großmutter führt. Es war ein ganz außergewöhnlicher Tag, denn norma-lerweise waren meine Eltern unter der Woche nicht vor 20:00 Uhr zu Hause und die jali hauquin wäre normalerweise schon längst gegangen. Aber nicht so an diesem außergewöhnlichen Nachmittag. Wir besuchten meine Großmutter und tranken Tee mit ihr. Nach einer Höflichkeitsweile zogen wir uns zurück. Mit dem Bus fuhren wir zum Zoo. Dort mussten wir lachen, weil ein Affe im Gehege den Gummi vom Krückstock meines Vaters abgebissen hatte, nachdem er versucht hatte, ihn mit seinem Stock durch die Maschen des Gehege zu ärgern. Wir lachten alle – außer mein Vater, der sich über die Schlauheit des Affen ärgerte. Nach dem Zoo besuchten wir ein Volksfest ganz in der Nähe, wo ich einige Fahrgeschäfte ausprobierte. Ich habe sogar meinen Vater dazu gebracht, mit mir Autoscooter zu fahren. Es war insgesamt ein Riesenspaß. Am Abend haben wir alle auf dem Markt einen scharfen Lammspieß gegessen. Es hat uns allen gut geschmeckt. Der Traum war so bunt und real, dass ich beim Aufwachen noch eine gewisse Zeit an die Realität des Traumes glaubte. Einen Moment lang dachte ich sogar, meine Mutter in Peking anzurufen, um mich für das schöne Erlebnis zu bedanken.

Erst nach einer Weile fand ich in die Gegenwart zurück und musste mit entsetzlichem Schrecken erkennen, dass fast alle lieben Menschen im Traum schon seit langem tot waren. Es dauerte eine lange Zeit, bis ich wieder klare Gedanken fassen konnte. Ergriffen von der Erkenntnis, dass ich allein war und in melancholischer Trauer setzte ich mich ans Klavier und spielte die ersten Takte eines Requiems, das in die sechste Symphonie mündete.“

Erster Satz

Der erste Satz beginnt im Largo mit einem Paukenschlag des Entsetzens. Die nächsten Takte in Forte sind gleichsam ein Aufschrei über den furchtbaren Verlust und sie münden im Decrescendo in eine in Piano gehaltene tieftraurige Melancholie ein. Im Allegro erinnert sich Du Wei an die fröhlichen Momente ihres Traums.

In den folgenden Sätzen geht Du Wei aus ihrem Traum heraus, zurück in die Vergangenheit. Auch hier wechseln sich Trauer in den langsamen Tempi mit glücklichen Erinnerungen in den schneller gespielten Passagen ab.

Die Sätze 2-7 hat Du Wei einzelnen Personen aus ihrer Vergangenheit gewidmet. Überwiegend lebten sie zum Zeitpunkt der Komposition nicht mehr oder Du Wei hatte schon sehr lange keinen Kontakt mehr mit diesen Personen.

Zweiter Satz

Diesem Satz widmet Du Wei ihrer jali hauquin, der Haushälterin und Kindermädchen. An ihr hing Du Wei ganz besonders, weil sich diese einfache Frau vom Lande mit großem Herzen rührend um die Kinder der Familie Du gekümmert hat. Sie war für Du Wei quasi ein Mutter-Ersatz. Sie ist mit ihr regelmäßig auf den Markt zum Einkaufen gegangen.

                                                                                                                                                                        (symb.)

Dritter Satz

Diesen Satz hat Du Wei ihrer drei Jahre jüngeren Freundin Yenze gewidmet. Yenze war die Tochter einer mit der Familie Du befreundeten Familie im gleichen Wohnhaus. Obwohl Yenze drei Jahre jünger, war sie für Du Wei der Inbegriff von modischer Eleganz. Yenze hatte die Absicht, in den USA eine Tänzerinnen-Karriere zu beginnen. Jedoch war sie einige Jahre später nicht mehr telefonisch zu erreichen. Du Wei hat sehr darunter gelitten, ihre „kleine Schwester“ in den USA nicht mehr erreichen zu können.

Vierter Satz

Diesen Satz hat Du Wei für ihre erste große Liebe in China geschrieben. Es ist wohl ein Beispiel von besonders tragischem Irrtum, dem eine kindlich verblendete Seele, wie es Du Wei damals war, widerfahren kann. Liu Shikun, ein mittelmäßiger Pianist und Professor an der Minderheiten-Universität in Peking, hatte das Vertrauen von Du Wei schamlos ausgenutzt, sie verführt und sie zur Konkubine gemacht. Ein Mann, der bekannt war für seine amourösen Abenteuer mit zahlreichen Studentinnen der Musik, floh schließlich vor dem Regime in Peking nach Hongkong. Du Wei hielt in ihrer kindlichen Treue an dieser Liebe fest. Aber er hat ihr auf die zahlreichen Briefe von ihr nicht mehr geantwortet. Unendlich traurig hat sie nun deshalb diese Liebe für tot erklärt.

Fünfter Satz

Diesen Satz hat Du Wei ihrem Vater gewidmet. Im Allegro lässt Du Wei die Anfänge bekannter Volkslieder ihres Vaters anklingen. Ihr Vater bekleidete zuletzt die Position des stellvertretenden Direktors der Minderheiten-Universität in Peking. Es war natürlich nur eine symbolische Position, die die Partei dem verdienten Revolutionskämpfer zugestanden hat. Du Wei´s Vater, Du She Dia, starb eineinhalb Jahre nach dem Tode seiner Frau, der Mutter der Komponistin, vereinsamt am 15.10.1999 im Alter von 84 Jahren an einer Lungenentzündung.

Sechster Satz

Diesen Satz bezieht Du Wei auf ihre Mutter, Zhang Yu She. Sie verstarb am 10.6.1998 im Alter von 68 Jahren. Obwohl Wiederholungen aus früheren Sätzen erklingen, kann man schon die resignative Melancholie heraushören, die Du Wei im Gedanken an ihre Mutter hat. Die Bitternis, die sie ihr halbes Leben mit ihrer Mutter erlebt hat, die ihr nur in seltenen Momenten die Liebe gegeben hat, nach der das Kind so sehr vergeblich gehofft hatte, kann man deutlich heraushören. Die wenigen Momente, in denen ihre Mutter die Liebe zu ihrer Tochter gezeigt hat, waren einfach zu wenig, um eine feste Mutter-Kind-Bindung zu erzeugen. Offensichtlich hat die fest überzeugte Kommunistin, die ihre Mutter war, die soziale Bindung an ihre Tochter mehr der Partei geopfert als ihrer leiblichen Tochter. Die Trommelschläge im Andante sollen die Mutter postum an ihre vernachlässigte mütterliche Pflicht erinnern.

Siebenter Satz

Der letzte Satz ist einer Unbekannten gewidmet. Als Du Wei am 20.6.2008 von einer Reise nach Peking zurückgekehrt war, berichtete sie von einer jungen asiatischen Frau, die ihr schon während des Fluges nach Berlin wegen ihrer freundlichen und zustimmenden Art aufgefallen sei. Nach der Landung in Berlin-Tegel hätte ihr die junge Frau ihre Hilfe beim Tragen des umfangreichen Handgepäcks angeboten. Auch sonst hat ihr die junge Asiatin sehr gefallen. Du Wei berichtete weiter, diese junge Frau hätte ihre Seele berührt und dass sie sich sehnlichst diese Frau als Freundin gewünscht hätte. Schließlich – so berichtete sie weiter – hätten beide ihre Handy-Rufnummern ausgetauscht und seien so auseinander gegangen. Als Du Wei einige Tage später die Rufnummer wählte, hatte sie keine Antwort bekommen. Alle Versuche, die Unbekannte in den nächsten Wochen zu erreichen, waren gescheitert. Du Wei berichtete, sie sei sehr traurig, diese seelenverwandte Unbekannte nicht erreichen zu können.

Nach einiger Zeit hatte Du Wei keine Möglichkeit mehr gesehen, noch eine Verbindung zu der Unbe-kannten zu erreichen.

Traurig, eine Freundschaft, die vielleicht so vielversprechend gewesen wäre, zu Grabe zu tragen, hat Du Wei diesen letzten Satz in Trauer um eine Freundschaft, die sie nicht geschlossen hat, geschrieben. In den beiden Sätzen Allegro und Lento, aber besonders im Lento fordern die Paukensschläge des kommenden tragischen Schicksals immer energischer unser Gehör.

In der Gesamtbetrachtung offenbart die sechste Symphonie die Seele von Du Wei in erschütternder Dramatik und ihre Zerrissenheit in sich selbst.

 

Sinfonie Nr. 6 c-Moll ------------51´35”

 

  1. Satz:     Largo --------------------------------´6´54”

                 Allegro--------------------------------4´44”

 

 2. Satz:      Largo ---------------------------------2´49”

                   Allegro--------------------------------4´19”

 

  1. Satz:     Adagio Cantabile------------------3´43“

 

  1. Satz:     Adagio Cantabile-------------------6´09”

 

  1. Satz:     Lento -------------------  --------------6´34”

                 Allegro----------------------------------1´07”

                 Lento---------------------------------   5´12”

 

  1. Satz:     Andante--------------------------------5´05“

                 Lento------------------------------------1´08“

 

  1. Satz:     Allegro----------------------------------1´31”

                  Lento----------------------------------- 2´20”

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[1] gutherziges Kindermädchen und Haushälterin

[2] eine Gasse die an den Wohnhöfen der wohlhabenden chinesischen Familien vorbeiführt.

[3] Hufeisenförmiges flaches traditionelles Wohnhaus

Du Wei - Sinf. Nr. 6 - 7.Satz-Allegro-Lento.mp3

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