Du Wei wurde am 10. Dezember 1959 als Tochter des Sängers und Dozenten für Gesang und stellvertretenden Dirktors der Minderheitenuniversität in Peking, Du She Dia und der Literaturprofessorin Zhang Yu She in Peking geboren. Da ihr Vater zu einer Minderheit der überwiegend moslemisch ausgerichteten Hui bzw. anderen Turkvölkern gehörte, galt auch Du Wei dieser Minderheit zugehörig.
In relativer Sicherheit wuchs das kleine Mädchen bei ihren wohlhabenden Eltern in einer komfortablen Vier-Zimmer-Wohnung im Haidian-Distrikt (Universitätsviertel) mit mehreren Bediensteten heran.
Die Bediensteten kochten, putzten und kümmerten sich um das kleine Mädchen. Der relative Luxus brachte aber auch große Nachteile für das heranwachsende Kind. Die Eltern kamen in der Regel erst spät nachts nach Hause und konnten sich nicht so intensiv um ihr Kind kümmern als es geboten war.
Eine ältere Bedienstete, eine einfache Frau vom Lande, Jali Hauquin, die in einer kleinen Wohnung gegenüber der Familie Du mit ihrem Mann lebte und für die Familie Du kochte und den Haushalt besorgte, kümmerte sich rührend um das Kind und später auch um ihren Bruder, konnte jedoch die Eltern nicht ersetzen.
Die empfindsame Du Wei litt sehr unter diesem Entzug. Nur an manchen Wochenenden machten die Eltern Ausflüge zum nahe gelegenen Zoo oder zu dem berühmten Bambuspark mit dem kleinen Mädchen. Die Kulturrevolution, die 1967 ihren Höhepunkt erreichte, traf auch Du Wei´s Eltern mit voller Wucht, besonders ihren Vater, den die verrohten Roten Brigaden mit dem Hass auf alle Gebildeten und besserverdienenden Intellektuellen zu Zwangsarbeit auf einem landwirtschaftlichen Betrieb der Armee und damit zu niedrigsten Arbeiten zwang. Du Wei und ihr kleiner Bruder musste dies anfangs alles miterleben, bis die kluge Mutter die Kinder 1967 in die ruhigere Provinz Sichuan nach Südchina zu Verwandten schickte, wo die im Auftrag Mao´s herummarodierenden Banden selten in Erscheinung traten.
Eine spätere feste Freundschaft zu einem drei Jahre jüngeren Mädchen, der Yenze, deren Eltern im gleichen Haus wohnten, wurde Bezugs- und Angelpunkt, ja sogar zu einem Idol für Du Wei. Dieses Mädchen, deren Eltern auch Hochschullehrer an der gleichen Minderheiten-Universität waren, an der auch Du Wei´s Eltern als Dozenten arbeiteten, sollte nach dem Willen ihrer Eltern Tänzerin werden. Durch ihr elegantes Auftreten, stets in neuester Mode gekleidet, war sie das erstrebenswerte Vorbild für Du Wei.
Dieses Mädchen entsprach nach zahlreichen Schönheits-Operationen dem für Chinesen empfundenen Idealbild einer europäischen Schönheit.

Du Wei (links), Yenze und Du Wei´s Bruder 1973 in Beijing
Dies war auch der Grund, warum Du Wei später diesem Idol folgend mehrere Schönheitsoperationen
über sich ergehen ließ.
Nach dem Willen der Eltern, besonders der Mutter, sollte Du Wei eine musikalische Ausbildung erhalten, obwohl sie sich mehr für die Natur und Pflanzen interessierte und insgeheim den Wunsch hatte, Botanikerin zu werden. Aber sie musste sich mit eiserner Disziplin ihren Eltern fügen und so begann sie mit sechs Jahren Klavierunterricht bei einem privaten Klavierlehrer zu nehmen.
Dies führte sie später zum Studium der Komposition und des Klaviers an der Minderheiten-Universität, Zhongyang Minzu Daxue, in Peking.
Dort lernte sie am Ende Ihrer Studienjahre den Klavierprofessor Liu Shikun kennen. Von ihm erhoffte sie sich entscheidende Hilfe für die bevorstehenden Prüfungen zu ihrem Musikexamen. Bald entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen beiden, die jedoch – wie sie es später erkennen musste – von einseitiger Natur war.
Diese Beziehung war in China – auch noch Ende der achtziger Jahre – gerade weil es eine Beziehung war zwischen Lehrer und Student, sehr heikel und gefährlich und musste von beiden geheimgehalten werden. Dennoch erfuhr die Geheimpolizei – sei es durch Denunziation oder Gegner von Liu Shikun aus dem universitären Umfeld – Mitte 1984 von dieser verbotenen Liaison. Liu Shikun wurde verhaftet und brutal zusammengeschlagen.
Nach langem Krankenhausaufenthalt, währenddessen sich Du Wei rührend um ihn kümmerte, war Liu
Shikun wiederhergestellt.
Wie es kommen konnte, daß Liu Shikun kurze Zeit später auf freiem Fuß war und seine Reputation wiedererlangte, kann nur gemutmaßt werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde dies infolge einer „quit pro quo“- Aktion geregelt, bei der üblicherweise viel Geld die Seiten zu wechseln pflegte. Übrigens bis heute eine gängige Methode in China, die die kommunistische Partei trotz aller Schärfe, vor allem wegen schwarzer Schafe in ihren eigenen Reihen, bislang nicht verhindern konnte.
Im Frühjahr des Jahres 1988 begleitete Du Wei, mit sehr guten Zeugnissen von der Universität im Gepäck, Liu Shikun nach Deutschland, wo dieser anlässlich der Liszt- Festspiele in Nordrhein-Westphalen zu einem Gastspiel eingeladen worden war. Nach Beendigung seines Gastspiels in Deutschland kehrte Liu Shikun wieder zunächst nach Peking zurück, um jedoch kurze Zeit später seinen Wohnsitz nach Hongkong zu verlegen.
Du Wei blieb in Deutschland, halb freiwillig, eigent-lich im Land ihrer Träume, aber auch gedrängt von ihren Eltern, um sie aus der Schusslinie der grim-migen Geheimpolizei einerseits zu holen, die aber auch andererseits ihre Tochter gern als künftige berühmte Pianistin und Komponistin sehen wollten und die nun zu diesem Zweck hier ihr Studium vervollkommnen sollte.

Du Wei 1981
Für Du Wei war es eine bittere und endgültige Trennung von allen ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden und ihrer ersten und einzigen wahren Liebe. Jedoch hegte sie die große Hoffnung, ihre große Liebe irgendwann einmal wiederzubeleben – Ein Traum, der sich in ihrem Leben nicht mehr erfüllen sollte. Ihre späteren Versuche, wieder Kontakt mit Liu Shikun aufzunehmen, ließ dieser kalt abweisen.
Der Verdacht, dass Liu Shikun Du Wei nicht als Einzige verführt und missbraucht hat, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.
Selbst in der Sicherheit in Deutschland hat Du Wei ihre Angst vor Verfolgung durch die chinesische Geheimpolizei nicht ganz ablegen können.
Eine Angst, die nichtsahnende Zeitgenossen leichtfertig als Paranoika abzutun pflegten und die zu psychischen Fehldiagnosen geführt hat, erscheint durchaus glaubhaft, wenn man bedenkt dass die langen Arme der chin. Geheimpolizei bis in höchste Kreise von Politik und universitärer Ausbildung und bisweilen auch bis nach Deutschland reichen.
Ende 1988 lernte sie einen älteren Deutschen kennen, der für sie alles tat, um ihr ein angeneh-mes Leben in Berlin zu ermöglichen.
An der H.d.K. (heute U.d.K.) Berlin studierte sie unter anderem bei Professor Brettingham-Smith (†) und Professor Olbrich Komposition und Klavier.
Drei Jahre nach Aufnahme des Studiums nahmen Eßstörungen, Angst-und Panikattacken, Depressio-nen und Dysmorphobie, z.T hervorgerufen durch ihre traumatischen Erlebnisse während der „Kulturrevolution“, z.T. auch infolge von Indoktrination durch Angehörige und Bekannte („dicke Leute sind dumm“) und Liebesentzug durch ihre Eltern ein Übermaß an, so daß sie ihr Studium aufgeben musste.

Du Wei 1992
Leider hatte die klinische Psychiatrie in den neunziger Jahren noch einen sehr lückenhaften Kenntnisstand, so daß man bei Du Wei – auch unter Missachtung ihres gänzlich verschiedenen kulturellen Hintergrunds – eine fatale Fehldignose stellte und sie demzufolge mit den falschen Neuroleptika behandelte.
Es folgte eine jahrelange Odyssee durch psychiatrische Kliniken, die sich nicht die Mühe machten, die immer wieder weitergereichte Diagnose in Frage zu stellen oder zumindest zu hinterfragen.
Du Wei litt sehr an dieser Fehlbehandlung.
Während der Jahre der dumpfen Lähmung ihrer intellektuellen Schaffenskraft verlegte sie sich auf das Malen von Bildern und gab Klavierunterricht. Mehrere Ausstellungen ihrer z.T. sehr bemerkenswerten Bilder zeitigten jedoch ungerechterweise keine nennenswerte Öffentlichkeitswirksamkeit.
Erst eine Umstellung der Medikation auf ein milderes Neuroleptikum Ende der neunziger Jahre bewirkte eine Belebung ihrer Eigeninitiative und sie setzte ihr Studium der Komposition autodidaktisch mit immer steigenderer Akribie fort.
Dies führte in den Jahren zwischen 2005 und bis zu Ihrem Tode 2014 zu einer explosiven Entfaltung ihrer Schaffenskraft, aus der ein Feuerwerk von Kompositionen hervorging. Fast alle hier vorliegenden Kompositionen hat Du Wei in der kontemplativen Stille der Nächte innerhalb von neun Jahren in ihrem Refugium mit unglaublichem Fleiß und nahezu unmenschlich anmutendem Willen fertiggestellt.
Tragisch mutet es an, dass Du Wei infolge einer einzigen Fehldiagnose wertvolle Jahre ihres Lebens verloren hat.
Als wenn dies noch nicht genug gewesen wäre, erkrankte sie 2010 schwer an einem sehr seltenen Krebsleiden. Trotz einer Totaloperationen in 2012, die sie sehr tapfer über sich ergehen ließ, machten sich Ende 2013 Rezidive bemerkbar, die nicht mehr entfernt werden konnten.
Trotz der wahnsinnigen Schmerzen arbeitete Du Wei bis kurz vor ihrem Tode noch an ihren Kompositionen.
Du Wei starb am vierten November 2014 kurz vor ihrem 55.ten Geburtstag nach einem dreiwochen-langen Todeskampf im Theodoros-Hospiz Berlin-Turmstraße durch Überdosierung von Fentanyl, einem sehr starken Schmerzmittel, das sämtliche Organfunktionen lähmt.
Ihre letzte Ruhe fand Du Wei auf dem Friedhof Berlin-Grunewald, Bornstedter Straße 11.


Du Wei 1998
Die Erfüllung der Sehnsucht nach der fürsorgenden Liebe, die ihrer Seele und ihren sehnlichsten Wünschen nach Wertschätzung und Anerkennung entsprach, ist ihr wenigstens in den letzten Jahren bis zu ihrem Tode zuteil geworden.
Ihr Leben war eine Tragik, die sich in ihren Kompositionen niederschlägt.
In einer Vielzahl ihrer Kompositionen verarbeitete Du Wei die Erlebnisse ihrer Jugend, als Studentin an der Minderheiten-Universität in Peking und die Jahre in Deutschland, worin Glücksgefühle in der Kindheit und der ersten großen Liebe aber auch Angst, Panik und Hoffnung um die Erfüllung ihrer Träume zum Ausdruck kommen.
Zumindest ein Traum ist für sie in Erfüllung gegangen. Sie hat das Land ihrer Sehnsucht erreicht – Das freie Land im geheimnisvollen fernen Westen, das Land der untergehenden Sonne, eine Szene die sich ihr bei einer der seltenen Ausflüge mit ihrer Mutter in die Seele gebrannt hat.

Du Wei 2008
Wie sie selbst in ihren Erinnerungen ins Tagebuch schrieb, verharrten beide einst, als sie zehn Jahre alt war, im Park Yu Yuan in Peking an einem Sommernachmittag auf einer kleinen Inselpagode auf einem See bei einem überraschenden Wolkenbruch. Am Ende blieben nur noch einige große Tropfen, die in den See fielen, und die abziehenden Wolken gaben den roten Sonnenuntergang im fernen Westen frei. Dieses Bild ihrer Sehnsucht nach dem fernen Westen hat Du Wei ihr Leben lang geprägt.
Später berichtete sie von dem überwältigenden Glücksgefühl, mit dem Bus direkt vom Flughafen Schönefeld kommend, nachts durch die bunte beleuchtete Stadt Berlin zu fahren.
Im Zusammenhang mit ihren Erinnerungen hat Du Wei eine sehr malerische Ausdrucksform benutzt. Ihre Gedanken zu ihren Kompositionen hat sie nur mündlich ihrem vertrauten Freund mitgeteilt. Es sind daher keine Aufzeichnungen darüber vorhanden. Wenn man weiß, welche Vorstellungen Du Wei bei der Kom-position ihrer vielen Werke hatte, so eröffnet sich dem Zuhörer bunt kaleidoskopartig eine Welt der Poesie und Romantik.
Ihre Kompositionen, die der modernen Neoromantik zugeordnet werden könnten, aber auch Elemente der klassischen chinesischen Musik enthalten, lassen sich durchaus in die gleiche Reihe stellen mit den Werken von Charles Ives, Joaquin Rodrigo, Jan Ignatz Paderewski und Melartin, um nur einige Seelenverwandte Komponisten zu nennen.
Viele ihrer Kompositionen schwanken zwischen Dur und Moll, auch kurze Schwenke in die Dysharmonie und Atonalität sowie der Wechsel zwischen diatonischen und chromatischen Ausdrücken drücken ihre Stimmungsschwankungen aus und lassen eine Spannung erzeugen, die sie bewusst unaufgelöst lässt, um einen Schmerzzustand zu beschreiben.
Daß Du Wei trotz der vielen Krankenhausaufenhalte in psychiatrischen Kliniken, die ihr mindestens die Hälfte ihres noch verbleibenden Lebens in Deutschland kosteten und später des Martyriums ihres schrecklichen Krebsleidens, das sie mit einer Tapferkeit sondersgleichen auf sich nahm, noch zu solchen außerordentlichen kompositorischen Leistungen fähig war, darf ihr nicht hoch genug angerechnet werden.
Der sehnlichste Wunsch von Du Wei, wenigstens eine ihrer Kompositionen, von einem Orchester live gespielt, hören zu können, blieb ihr versagt.
Du Wei als tragische Figur, die zuletzt als Todkranke eine übermenschliche Leidensfähigkeit und Tapferkeit zeigte, hat trotzdem die Energie aufgebracht, ihre überragende Kunst zu einem Abschluß zu bringen. Dies zeugt von einer großartigen menschlichen Größe, vor der wir uns nur demütig verneigen müssen.
Michael Brockmann im Dezember 2024